Iwan Fedorowitsch Prosorow

Der Priester Iwan Fedorowitsch Prosorow war der Bruder von Nikolai Fedorowitsch Prosorow und der Schwiegersohn des Priesters Stefan Kusmitsch Nikolski. Er hat eine seiner Töchter, Lidia, geheiratet.

Der Priester Iwan Fedorowitsch Prosorow. Die ersten Jahre des Sowjet-Regimes

Vater Ioann wurde, wie auch sein Bruder, in Pokrowskaja Wareschka des Nischnelomowski Kreises (heutiges Bezirk Kamenski) am 23. Februar 1895 geboren. Im Jahr 1910 absolvierte er das Tichonow-Stift und dann 1916 das Priesterseminar in Pensa. Am Anfang der 1920-er Jahre diente er als Diakon und danach als Priester im Dorf Podchwatilowka (Kadomzewo) des Nischnelomowski Kreises. Von 1925 bis 1929 war er Priester im Dorf Nowaja Tolkowka im Bezirk Patschelma.

Im Jahr 1927 wurde Vater Ioann zum ersten Mal im Fall des Bischofs von Pensa Philipp (Perow) verhaftet, mit dessen Segen er eine Zählung in seiner Gemeinde durchgeführt hatte. GPU hielt das für eine antisowjetische Erscheinung, und der Priester wurde in der Stadt Tschembara (jetzt Belinski) ins Gefängnis gesperrt. Während der Ermittlung wurden Versuche unternommen ihn für die Rolle eines Informanten zu rekrutieren. Am 26. September 1927 wurde er, gleich vielen anderen, die im Zusammenhang mit diesem Fall auch verhaftet worden waren, aus der Haft entlassen.

Lehrer und Schüler des Tichonow-Stiftes. Iwan Prosorow steht neben Wladimir Nikolski in der zweiten Reihe (der vierte und der fünfte von rechts), Bildaufnahme um 1907.

Von 1929 bis 1931 diente Vater Ioann als Priester der Weihnachtskirche Pensas (derzeit ist an dieser Stelle das Café “Prag”) und von 1931 bis 1935 – als Priester der Mitrofan-Kirche. Beide Gotteshäuser gehörten damals der gregorianischen Richtung an, aber im Juni 1934 wurde das Mitrofan-Gotteshaus wieder der rechtmäßigen Kirche zurückgegeben und Vater Ioann wurde offenbar in die kanonische Gemeinschaft aufgenommen.

Iwan Prosorow als Schüler des Tichonow-Stiftes, Bildaufnahme um 1910.

Am 17. April 1935 wurde der Priester wieder verhaftet. Diesmal wurde er der antisowjetischen Agitation beschuldigt. Am 26. September wurde er zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt. Es stellte sich heraus, dass er fast ein halbes Jahr in Untersuchungshaft im Gefängnis verbrachte. Es gibt jedoch noch andere Informationen, denen zufolge Iwan Fedorowitsch später, also 1937, verhaftet wurde und am zehnten Tag nach seiner Haft in Pensa starb.

Die Tochter von Vater Ioann Nina erlebte im Kindesalter alle Schwierigkeiten, die eine Priesterfamilie in der Sowjetunion der 30-er Jahren haben konnte, aber sie vermochte es die Erinnerungen an jene schreckliche Zeit hinter sich zu lassen.

Aus den Erinnerungen der Tochter Nina Iwanowna Prosorowa-Kotschegarowa:

“Ich bin 79 Jahre alt. Ich lebe in Simferopol. Mein Vater, Ioann Prosorow, war ein Priester. Die Familie bestand aus fünf Personen. Wir lebten auf dem Land in ärmlichen Verhältnissen. Ich erinnere mich, wie unsere Kuh weggebracht wurde, weil wir die Steuer nicht bezahlt hatten. Alle weinten: wir, Kinder, hatten keine Milch mehr. Dann zog unsere Familie nach Pensa um, es war im Jahr 1930. Der Vater hielt Gottesdienste in der Weihnachtskirche. Wir wohnten auch da in einer Bude nebenan. Wir lebten in dürftigen Verhältnissen. Wir hatten keine Filzstiefel, während es im Winter sehr kalt war. Meine Mutter nähte ein neues Kattunkleid für mich erst zu Ostern, und alte Kleidungsstücke wurden nachgeschnitten, gestopft und wieder getragen. Wir, Kinder, hatten Spielsachen – Spardosen aus Gips. Ich hatte ein Kätzchen, Schenja hatte einen Hund und Kolja hatte ein Häuschen. Sonntags schenkte uns der Vater Münzen, meist Kupfermünzen, und wir ließen sie glücklich in unsere Spardosen fallen. Ich träumte davon mir Filzstiefel zu ersparen. Aber ich habe nichts ansparen können. In einer Nacht kamen drei Männer ohne Uniformen, suchten ab, suchten nach Gold, Silber … Sie fanden nichts, aber sie zerbrachen unsere Spardosen, aus irgendeinem Grund schmissen sie sie auf den Fuβboden. Die Münzen rollten davon, wir schrien, und Kolja biss einem Mann in die Hand.

Die Weihnachtskirche (Duchossoschestwenskaja Kirche) Pensas, in der Vater Ioann Gottesdienste hielt (derzeit befinden sich an dieser Stelle das Café “Prag” und das Hotel “Heliopark”).

Drei Blocks von der Kirche entfernt lag das Dreifaltigkeitskloster. Dessen Bewohner wurden zerstreut, aber dann, wie man damals sagte, geschah ein Wunder: An der Kuppel der Kirche, und sie war klein, begann ein heller Fleck in der Nacht aufzuleuchten. Die ganze Straße war voller Menschen. Die Polizei zerstreute sie, die Leute versammelten sich aber wieder. Keiner der Alteingesessenen hatte das schon früher gesehen. Es dauerte mehrere Tage, genauer gesagt, mehrere Nächte. Dann wurde die Kuppel mit schwarzer Farbe bemalt – der lichte helle Fleck erschien wieder. Die Kuppel wurde mit Sackleinen verhängt – er leuchtet wieder. Dann wurden die Kuppel und der Glockenturm abgebaut. Ich erinnere mich gut daran.

1931 wurde unsere Kirche erst geschlossen und dann zerstört. Ich erinnere mich daran, wie Ikonen auf Pferdefuhrwerke geladen wurden, wie sie fielen unter mit Füßen getreten wurden. Es war ein widerlicher Anblick

Der Vater begann in der Mitrofanow-Friedhofskirche Gottesdienste zu halten und unsere Familie zog in die Kirchenbude nebenan. Da wurden auf der linken Seite Halbgeschosse gebaut, wo die Mutter und die drei Kinder schliefen und der Vater schlief auf der Bank unten. Auf der rechten Seite waren auch Halbgeschosse, wo der heimatlose Diakon schlief, er hatte eine mächtige Bassstimme. Das Schlimmste war, dass hier unten der alte Wachmann Merkulowitsch wohnte, er war taub und wischte sich die Nase nie… es war schrecklich. Wir konnten nirgendwo eine Wohnung finden, niemand wollte uns mit so einer großen Familie aufnehmen. Von den Halbgeschossen konnte man durch das Fenster Kreuze sehen, besonders im Mondschein einer Winternacht. Ich hatte eine große Angst, konnte nicht schlafen und weinte. Zwei Jahre später konnten wir endlich in ein Häuschen vor dem Friedhof gegenüber umziehen.

Die Mitrofanow-Friedhofskirche

In dieser Kirche dienten vier Priester: Vater Iwan Prosorow, Vater Wassili Archangelow, Vater Nikolai Lapin, Vater Pawel Remesow. Der Letzte war ungefähr siebzig Jahre alt, sehr krank, herzkrank. Aber er strahlte so viel Wärme aus, er konnte jeden trösten, die Leute gingen zu ihm, um zu reden.

Priester Ioann Prosorow und gregorianischer Bischof Wassili Archangelow

Die Messen in der Kirche wurden täglich gelesen. Die Kirchenväter hielten Gottesdienste und dienten in der Kirche abwechselnd: schließlich war das ein Friedhof und die Leute kamen, um das Grab zu segnen und andere Rituale durchführen zu lassen. Und Wickelkinder zum Taufen wurden meist abends gebracht: die Eltern hatten Angst ihre Arbeitsstelle zu verlieren, wenn sie tagsüber dabei gesehen werden. Hochzeiten gab es keine.

Wir, wie alle anderen Priester auch, lebten in dürftigen Verhältnissen. Die Einkommen waren jämmerlich. Immerhin war es anders im Vergleich zu heute: die Gebühr für das Lesen der Seelenmesse beträgt soundso viel, für die Beerdigung – soundso viel. Damals entschieden die Leute selbst, wieviel Geld sie dem Priester gaben. Da stand immer eine geschlossene Büchse, in die Leute immer das Geld fallen ließen und am Sonntag wurde dieses Geld unter den Amtsträgern aufgeteilt. Man lebte hungrig, kleidete sich unansehnlich an, murrte aber nicht, dass es irgendwie falsch wäre, man kannte schließlich kein anderes Leben. Der Vater hatte eine gute Tenorstimme, und ich hörte seinem Gottesdienst gerne zu.

Iwan Fedorowitsch Prosorow mit seiner Frau Lidia Stepanowna (geborene Nikolskaja) nach dem Abschluss des Priesterseminars Pensa, 1916.

Ich erinnere mich an das schreckliche Jahr 1933. Wir schmachteten vor Hunger! Es gab kein Brot. Lebensmittelkarten für den Broterwerb wurden den Geistlichen von den Sowjetbehörden nicht gegeben. Andere Menschen bekamen wenigstens je 200 Gramm, aber wir – nichts. Wir aβen Fladen aus Gerstenkaffee mit abgeriebenen Rüben – ekelhaftes Zeug. Ich konnte mich von Gogols Buch “Gutsbesitzer aus alter Zeit” nicht trennen. Welche leckeren Dinge sie aßen, besonders Piroggen mit Buchweizenbrei! Und ich las diese Seite immer wieder: es schien, als ob Pulcheria Iwanowna mich abspeisen würde. In der Schule kam es vor, dass Kinder an der Schreibtafel in Ohnmacht vor Hunger fielen.

In der Moskowskaja-Straße wurde das Nobellebensmittelgeschäft “Torgsin” eröffnet. Dort konnte man Lebensmittel nur für Gold und Silber kaufen. Wir gaben dort den Ehering der Mutter ab, nahmen Hirse, ich weiß nicht, wie viele Kilogramm, aber das Täschchen war nicht besonders schwer. Wir kochten daraus eine dünne Hirsesuppe und waren glücklich. Und im Schaufenster, als ob man sich über das verarmte Volk lustig machen wollte, wurden Schinken, Würste, Käse und am wichtigsten – Weißbrot und verschiedene Semmel ausgestellt. Einige Leute versuchten so schnell wie möglich an diesem Schaufenster vorbeizulaufen um nicht hinzuschauen, während andere lange davor standen und es sich ansahen: der Speichel lief ihnen dabei vor Hunger im Munde zusammen. Ich stand auch mehrere Male davor, aber schaute aus irgendeinem Grund hauptsächlich nur Brot an, ich wollte den Mund voll haben. Und der Wahnsinn: neben mir stand einst ein geschwollener Mann, er sah und sah hin und fiel dann tot um.

Und mir passierte noch etwas: Eine Bekannte begegnete mir auf der Straße, lud mich zu sich nach Hause ein. Sie sagte, sie hätte ein Paket von ihrem Sohn bekommen. Sie schnitt mir ein ziemlich großes Stück Schwarzbrot ab und schmierte Butter aufs Brot. Das Aroma berauschte mich. Sie bestand darauf, dass ich es sofort esse, aber ich wollte es nach Hause mitnehmen. Unterwegs biss ich einen kleinen Bissen ab, es war unglaublich lecker! Und ich aß so schnell und so gierig das ganze Brot auf. Ich war auβer mir, aber als ich wieder zu mir kam, überkam mich ein Gefühl der Scham: wie konnte ich alles bis auf den letzten Rest alleine aufessen und meinem Schwesterchen keinen einzigen Bissen mitbringen! Niederträchtig. Ich weinte den ganzen Weg lang, und als ich nach Hause kam, schluchzte ich und wiederholte immer wieder: “Verzeiht mir, verzeiht mir ” … Jetzt, während ich es schreibe, weine ich.

Alles war schwer, sehr schwer für uns. Die Kinder der Geistlichen wurden nicht in die fünfte Klasse aufgenommen, dann begann man, sie in die siebte aufzunehmen. Im Frühling gingen Mädchen von unserer Straße in eine Vorstadtsowchose arbeiten. Sie sagten: man gäbe dort 300 Gramm Brot, Suppe und Geld. Ich kam mit. Mit welcher Energie jätete ich die Beete aus! Drei Tage lang aß ich dort Suppe und Brot brachte ich immer nach Hause. Am vierten Tag kamen ein Brigadeleiter und ein anderer Mann auf mich zu und sagten: “Ist dein Vater ein Pope? Komm nie wieder hierher.” So bekam ich die erste moralische Ohrfeige wegen meiner sozialen Herkunft. Aus demselben Grund wurde ich in die achte Klasse nicht aufgenommen. Meine Verzweiflung wollte kein Ende nehmen. Je weiter, desto ärger schien alles zu werden. Ich bekam einen Pass ausgehändigt, in dem es geschrieben stand: “Unterhaltsberechtigte Familienangehörige eines Geistlichen”. Na, wo soll man mit so einem Pass (einem Verbotsschein) hin? Alle Lebenswege waren damit verschlossen. Ich wollte einfach nur sterben. Zwei bekannte junge Leute begingen Selbstmord vor Verzweiflung – wie lange konnte man nur Zeit verschwenden, wie lange den sowieso armen Eltern auf der Tasche liegen? Wie viele Tränen verströmte ich damals!

Und 1937 stürzten zu uns in der Nacht Männer in Lederjacken, stellten alle an die Wand, stellen alles bei uns auf den Kopf. Sie haben nichts gefunden, mein Vater wurde weggebracht und ich sah ihn nicht mehr wieder. In der gleichen Nacht wurden Vater Wassili, Vater Nikolai und Vater Pawel verhaftet. Mein Vater starb am zehnten Tag nach seiner Festnahme. Seine Leiche wurde nicht uns nicht zurückgegeben. Und wir wurden bettelarm…

Die Mauern dieser Kirche hörten den Gottesdienst dieser Priester. Keiner von ihnen kehrte zurück. Und sie ruhen ohne, in ihrer Kirche besungen zu werden, bestimmt irgendwo weit weg in der sibirischen Erde. Ich würde die Kirchenväter, die jetzt in der Mitrofanow-Kirche Gottesdienste halten, darum bitten, – in einem Trauergebet des Vaters Wassili, Vaters Nikolai und Vaters Pawel zu gedenken. Ewiges Angedenken! “.

Quellen: Fall Nr. 7885-п, 10518-п; Staatsarchiv des Pensaer Gebiets, F. 21, V. 1, D. 1127; Lebedew M.A., Erzpriester. Die Geschichte der Pensaer Region in Umrissen. / Red.- Verfasser A.I. Dworshanski. Pensa, 2007. S. 89-91, 238. Bildmaterial ist aus dem Familienarchiv von Tarschilow Dmitri Georgiewitsch.

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